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Channel: ZEIT der Leser » Ein Gedicht! Klassische Lyrik
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Vom Pollen benommen

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(nach Emanuel Geibel, »Der Mai ist gekommen«)

Der Mai ist gekommen, die Pollen schwirren aus.
Da bleibt, wer vernünftig, mit Kleenex zu Haus.
Wie die Wolken auch wandern am himmlischen Zelt,
es gibt kein Entrinnen in der blühenden Welt.

Der Mai ist gekommen, den Apotheker es freut:
»Oh wie lieblich und lohnend ist die Heuschnupfenzeit.«
Frischauf drum, frischauf, es blühet das Gras.
Es kribbelt, es krabbelt, es läuft manche Nas.

Der Mai ist gekommen. Du lustiger Spielmann du,
Ergreif deine Fiedel, ich nies den Takt dazu.
Und find ich keine Ruhe, so lieg ich zur Nacht
mit tränenden Augen und halte die Wacht.

Im Wind rauscht die Linde, schließlich schlafe ich ein,
und mein Traum lässt mich sacht im September schon sein.

Susanne Steinhagen, Dortmund


Absturz

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(nach Detlev von Liliencron, »Herbst«)

Fußball ist ein goldner Garten,
Jedes Spiel ein Sonnenpfeil.
Doch muss den Abstieg man erwarten,
Wirkt Fußball wie ein Henkerbeil.

Düster werden alle Mienen,
Leere Blicke schweifen um.
Gesten, die dem Troste dienen,
Machen hilflos, machen stumm.

Spieler bilden Abwehrmauer:
Sinnbild der Vergeblichkeit.
Fußballfreude, Fußballtrauer,
Gestern Aufstieg, Absturz heut.

Lothar Rehfeldt, Lübeck

Mai vorbei

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(nach Erich Kästner, »Der Mai«)

Im Cabrio des eilenden Verschwenders,
das Smartphone in der linken Hand,
fährt jetzt der Mai, die Wonne des Kalenders,
mit seinen Farben protzend durch das Land.

An seinem Weg die Frau’n erröten,
– die Mädchen machten früher einen Knicks.
Aus seinem Radio hört man schrille Flöten –
ist das die neue Melodie des Glücks?

Auf Autobahnen jagt dahin sein Wagen,
er fährt an meinem Orte rasch vorbei.
Die alten Menschen hört man klagen:
»Ist das noch unser lieber Mai?«

Er ruft uns zu: »Seid guten Mutes!
Ich komm’ zurück doch jedes Jahr.«
Er hat’s versprochen und er tut es.
Der Mai wird immer wieder wahr.

Günther von Boetticher, Oldenburg, Niedersachsen

Stippvisite

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nach Bertolt Brecht, »Rückkehr«

Mein Kindheitsort, wie find ich ihn doch?
Endlich nach siebzig Jahren
Komm ich dorthin.
Wie denn heißt er? Wo vier Konsonanten
Mittendrin stehn,
Bierzwnik auf Polnisch, das
Ist er.

Der alte Gutshof, wie empfängt er mich wohl?
Rückverwandelt in das Kloster, das er einst war.
Welch eine Einkehr, Marienwalde,
Im Plusquamperfekt. Ach.

Reinbert Tabbert, Reutlingen

Lindenblütentraum

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(nach Matthias Claudius, »Abendlied«)

Gehst du langsam über Wiesen,
Fühlst du das sanfte Sprießen
Des Junis wunderbar.
Schaust du auf zu unserer Sonne,
Fühlst du die zarte Wonne
blühender Bäume immerdar.

Die Nase in den Lüften,
Schwelgst du in tausend Düften
vom Lindenblütenmeer.
Gleich großen gelben Kronen,
Die auf den Bäumen wohnen,
Verströmen sie sich mehr und mehr.

Es sind die hohen Linden,
Die in die Herzen finden
Auf diesem Wege hier.
Sie singen alte Lieder.
Es ist, als käm’ hienieder
ein wunderbarer Traum zu dir.

Christiana Thirion, Offenburg

Löwenzähne

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(nach Johann Wolfgang von Goethe »Im Vorübergehn«)

Ich träum im Garten
So vor mich hin,
Und nichts zu tun,
Danach steht mir der Sinn.

Im Rasen seh ich
Was Gelbes stehn,
Löwenzähne!
Das ist nicht schön.

Euch stech ich
Mit allen Wurzeln aus!
Weg – in die grüne Tonne,
Wohl hinter dem Haus.

Doch was erspäh ich
Am Morgen darauf?
Löwenzähne!
Und das zuhauf

Gelb, grün und fett,
Als ob ich nie gestochen hätt!

Das ist doch nicht zu fassen.
Darum kurz räsoniert –
Man könnt es ja auch lassen?

Nun träum ich im Garten
So vor mich hin,
Wohl wissend,
Fleiß hat keinen Sinn.

Sibylle Korber, Odenthal, Nordrhein-Westfalen

Am Tresen

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(nach Heinrich Heine, »Sie saßen und tranken am Teetisch«)

Sie saßen und tranken am Tresen
und sprachen von Kirche viel.
Die einen sah’n sie verwesen,
die andern meinten: »Debil!«

Die Kirche sei gendersensibel!,
die dürre Emanze sprach
und äugte dabei peni(si)bel
auf den Macho, der lächelte: »Ach?«

Der Zahnarzt öffnet den Mund weit:
Die Kirche sei viel zu reich.
Zum Schutz ihrer Glaubwürdigkeit
sei er ausgetreten sogleich.

Der Altphilologe wehmütig:
»Die Kirche, sie spreche Latein,
die Weltsprache!«, sagt er fast gütig;
dann träte er auch wieder ein.

Der Banker mit seinen Millionen,
der meinte so nebenbei,
der Glaube, der könne sich lohnen,
bei mehr Apokalyptikerei.

Am Tresen war noch ein Plätzchen,
mein Christ, da hast du gefehlt.
Vielleicht hättest du ohne Mätzchen
von deinem Glauben erzählt.

Ulrich Lüke, Aachen

Der Mohn ist aufgegangen

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(nach Matthias Claudius’ Abendlied »Der Mond ist aufgegangen«)

Der Mohn ist aufgegangen,
Die großen Blüten prangen
Am Stängel rot und klar.
Das Morgenrot sich zeiget,
Und aus der Wiese steiget
Ein leichter Nebel wunderbar.

Wie ist die Welt so stille.
Des neuen Tages Fülle
Stört meine Ruh noch nicht.
Die ersten Vögel singen,
Und ihre Lieder klingen
Im dämmrig zarten Morgenlicht.

Seht ihr den Mohn dort stehen?
Er ist jetzt gut zu sehen
Und leuchtet strahlend schön:
So sind wohl manche Sachen,
Die uns viel Freude machen,
Wenn wir sie mit dem Herzen sehn.

Marijke Bonim-Hauger, Leinfelden-Echterdingen


Nachtgedanken

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(sehr frei nach Heinrich Heine, »Nachtgedanken«)

Denk ich an Freital in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.

Wo man Rassismus »Sorge« nennt,
Gezielten Hass als Angst verkennt,
Wo Dummheit »Mut zur Wahrheit« wird,
Ein Pass die Würde definiert,
Wo Hetze schon als Meinung zählt,
Das Argument zum Weltbild fehlt,
Wo Mitgefühl der Missgunst weicht,
Wo Fremdheit schon zum Feindsein reicht
(Und Deutschsein fremdenfeindlich gleicht).

Wo man sich Selbstjustiz erlaubt,
Asyl der Sicherheit beraubt,
Wo Stein auf Heim zufrieden macht
– dort, liebes Deutschland, gute Nacht!

Was wie die Sonne dort versank,
Ist Menschlichkeit – im »Abendland«.

Michaela Ferber, Dresden

Lyrikers Einsicht

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(nach Heinrich Heine, »Lyrisches Intermezzo«)

Ich steh an der Weide Gatter
Und dichte phänomenal.
»Wenn ich ein Rindvieh wäre!«,
Seufz ich, ganz emotional.

Wenn ich ein Büffel wäre,
So wär ich bei dir als Rind
Und käute fröhlich wieder,
Wo deine Tulpen sind.

Wenn ich ein Kälbchen wäre,
So wär ich noch ein Kind
Und besser zu ertragen
Als so ein Riesenrind.

Wenn ich ’ne Landkuh wäre,
So hätte ich einen Zweck,
Denn Rinder geben Milch
Und dichten nicht so schlecht.

Antonia Wurm, Bobingen, Bayern

Der Sommer heizt den Ofen an

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(nach Peter Hacks, »Der Herbst steht auf der Leiter«)

Der Sommer macht den Ofen an
Und heizt uns mächtig ein.
Er schürt die Glut, so gut er kann,
So hitzig find’ er’s fein.

Er lässt die Hitze flirren,
Ein Heißsporn ganz und gar.
Lässt Mückenschwärme schwirren
Und singen Vögelschar.

Die Tanne ruft dem Sommer zu:
»Willst dich nicht mal hinlegen?
Mach Pause und gönn’ uns auch Ruh’
Und endlich wieder Regen!«

Der Sommer hat noch so viel vor,
Die Bienen summen munter.
Die Grillen zirpen laut im Chor,
’s geht drüber und auch drunter.

Ute Malkowsky-Moritz, Berlin

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Die Biereley

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(nach Heinrich Heine »Das Lied von der Lore-Ley«)

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Dass ich so trinkfest bin;
Die Mahnung von nüchternen Leuten,
Die kommt mir nicht in den Sinn.

Die Luft ist kühl, und es dunkelt,
Und schluckweise fließet das Bier;
Am Nachbartisch man schon munkelt:
»Der hockt schon seit Nachmittag hier!«

Und hinter der Theke, da sitzet
Die Anni ganz wunderbar;
Ihr goldener Eckzahn, der blitzet,
Sie fährt sich durchs goldblonde Haar.

Jetzt kommt sie mit vollem Tablette
Und trällert ein Liedchen dabei;
Ich hätt’ sie ganz gern mal im Bette,
Doch das sag ich nur nebenbei.

Ich sitze nun friedlich beim Schlucken,
Und glücklich ganz ohne Weh;
Nach oben muss ich nicht gucken,
Für mich ist die Welt jetzt okay.

Ich glaube, den Abend verschlingen
Bald Vorwürfe gänzlich allein;
Die Loreley kann so schön singen,
Ganz anders klingt das daheim.

Günther Knauf, Arnstadt, Thüringen

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